Wenn alles zu viel wird...

Familie, Freunde, Nachbarn oder Hilfsdienste – sich Hilfe suchen, weil ich mir der eigenen Grenzen bewusst bin, erfordert Mut, der sich aber lohnt!

VON ELISABETH HAAS

Ich sitze an einem der ersten warmen Tage im März auf der Terrasse des Hauses von Frau S., umgeben vom leuchtenden Gelb der Narzissen und wunderschönen Schneerosen und darf mit auf die letzten zwei Jahre zurückblicken, die so einschneidende Veränderungen brachten. Als Pensionisten blickte das Ehepaar bereits auf ein gutes Leben zurück und sie freuten sich über ihre Kinder und Enkelkinder, über die Zeit mit Freunden oder gemeinsame Reisen.

Und dann kam die sehr spät erkannte Krebserkrankung. Zahlreiche Therapien, gute aber auch unerfreuliche Arztgespräche, Hoffnungen und Enttäuschungen waren die Folge. Eine große Stütze in dieser Zeit war die Hausärztin, mit ihrer ehrlichen, praktischen und kompetenten Begleitung. Seinen 80. Geburtstag im Spätsommer 2020, konnte Herr S. im Kreise seiner Familie noch gut feiern. Richtig schwierig und belastend wurde es dann im November, wo sich sein allgemeiner Gesundheitszustand nach einer weiteren Chemotherapie sehr verschlechterte und die Schmerzen aufgrund der vielen Metastasen immer mehr wurden.

„Er hatte eine Engelsgeduld und beschwerte sich nie“, so erlebte Frau S. ihren Mann in dieser Zeit, ihre eigenen Grenzen der Belastbarkeit rückten aber näher. Zum Glück war und ist sie nie alleine. 
Ihre beiden Töchter, ihre Nichte und viele andere standen mit hilfreichen Ideen, offenen Ohren oder anpackenden Händen zur Seite. So besorgten sie rechtzeitig notwendige Pflegehilfsmittel wie einen Duschsessel oder ein Pflegebett. Auch das Palliativteam des Klinikums St. Pölten war wochentags erreichbar mit guten Gesprächen und lindernden Tipps. An die Nacht vom 7. Dezember kann sich Frau S. noch gut erinnern, denn die Schmerzen ihres Mannes wurden unerträglich. Zum Glück gab es ein freies Bett auf der Palliativstation in Lilienfeld, die ihren Mann umgehend aufnahmen.

Leider gestaltete sich die Schmerzeinstellung als sehr schwierig, und als ihr Mann zu Weihnachten nach Hause entlassen wurde, war der Schmerz immer noch eine große Herausforderung – neben der Tatsache, dass er kaum noch die Kraft hatte auf den eigenen Beinen zu stehen. Diese Zeit bis zum Todestag am 30. Jänner 2021 wurde zur traurigsten und schwersten ihres Lebens – und das, obwohl viele Menschen Frau S. und ihren Mann unterstützen.

Hospizbegleiter*innen, Palliativmediziner* innen und -pfleger*innen, die Hausärztin und vor allem ihre beiden Töchter bemühten sich, den Eltern während des Lockdowns im eigenen Haus eine Atmosphäre zu schaffen, das manchmal unaussprechbare Leiden auszuhalten, der Ohnmacht mit kleinen Handlungsimpulsen zu begegnen, sich als Familie zu erleben und zu vergewissern und letztlich sich verabschieden zu können. Gerade das Verabschieden war ja aufgrund der Begegnungsbeschränkungen eine Herausforderung.

Heute sitzt Frau S. mit mir in der Sonne und kann auf die besondere Zeit mit viel Traurigkeit, aber auch Dankbarkeit zurückblicken. Und sie wagt wieder neue Schritte nach vorne, wie zum Beispiel ihren ersten kurzen Urlaub alleine, als Witwe – mit Ungewissheit im Gepäck, aber vor allem mit ihrem Mann ihm Herzen und der Erfahrung, dass „es gut war“.

Solch berührende Gespräche wecken in mir die Gewissheit, dass wir Menschen grundsätzlich mit allen notwendigen Fähigkeiten ausgestattet sind, durch Krisen gehen zu können. Gleichzeitig frage ich mich aber auch, was kann helfen, dass Ohnmachtserfahrungen erträglich oder Leiderfahrungen ertragbar werden?

Während des ersten Lockdowns im Frühling 2020 kam mir ein Buch von Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität unter – „Unverfügbarkeit“ , so der Titel. Er beschreibt darin, dass Menschen durch Momente der Berührung bewegt und innerlich erreicht werden, z.B. durch eine Träne, ein Bild, einen Geruch oder Musik und durch die Reaktion darauf ein Dialog entsteht und eine Kette von wechselseitigen Aktionen und Reaktionen ausgelöst wird. „Wann immer wir in Resonanz zu einem Menschen, einem Buch, einer Musik etc. stehen, transformieren wir uns in der und durch die Begegnung.“ Immer wenn Menschen in Resonanz mit der Welt treten, ist Veränderung mit dabei – auf beiden Seiten.

Wir sagen bei bewegenden Momenten manchmal, nichts ist mehr, wie es war. Wir können Rahmenbedingungen schaffen und Ratgeber lesen, niemand aber kann Beziehung, dieses Gefühl der sich transformierenden Verbundenheit herstellen. Und niemand kann vorhersagen, in welche Richtung diese „Verwandlung“ geht. In Beziehung sein, in Resonanz mit der Welt zu sein bedeutet ergebnisoffen zu sein.

Hartmut Rosa meint, das Ziel ist, Ideen zu finden, das Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Ordnung und Kontrolle und dem Zulassen dieses chaotischen, unberechenbaren
Lebens gestalten zu können.

In Hospiz- und Trauerbegleitungen erleben wir immer wieder diese Spannungslinie. Einerseits ist man versucht, alles auszuschöpfen, was möglich ist – wirksame Medikamente, das beste Pflegebett, die kompetenteste Rundumbetreuung, Spezialisten für die seelischen, physischen, medizinischen, sozialen Herausforderungen uvm.

In all diesem Tun erleben sich Betroffene, Angehörige, Freunde und professionelle Betreuer*innen aktiv und beteiligt. Andererseits wissen alle Beteiligten um die tägliche Unvorhersehbarkeit einer Krankheit, um die Aussichtslosigkeit so mancher Therapie und um die Ohnmacht gegenüber dieser Tatsache, dass der Tod sich nicht abschütteln lässt.

Und in diesem Spannungsfeld gibt es eben diese Momente der Berührung, der Resonanz, des in Beziehung seins mit sich und der Welt … und das sind die Momente, wo man sich selbst und den Menschen um sich bestätigt, es ist gut, zu sein!

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